Grundrechtsdissonanzen und Beobachtungsschemata

Irgendwie habe ich ein Sommer-Dejà-vue. Wisst ihr noch? Letztes Jahr um diese Zeit stritten wir uns um Beschneidung.

Die Fronten waren verhärtet und die Frage grundsätzlich. Ähnlich wie bei Prism sah man grundlegende Menschenrechte verletzt.

Und ähnlich wie bei Prism kam die Diskussion eigentlich aus dem Nichts.

Die Praxis der Beschneidung jedenfalls war keineswegs eine Neuigkeit. Jeder, der nicht den kompletten Religionsunterricht verschlafen hatte, wusste, dass Muslime und Juden ihre Kinder beschneiden lassen. Auch in Deutschland. Das geschah keinesfalls geheim, sondern völlig offen und alltäglich. Eine ethisch-gesellschaftliche Debatte zu diesen Themen gab es bis dato – jedenfalls nach meinem Kenntnisstand – nicht.

Auslöser war ein Urteil des Landgerichts Köln, gegenüber muslimischen Eltern und ihrem Arzt. Beschneidung ist rechtswidrig, wurde festgestellt, als sei es das normalste der Welt.

Und tatsächlich gibt es nichts im Gesetz, dass diese Praxis legitimieren würde. Beschneidung war also die ganze Zeit schon unrecht. Zumindest seit Anbeginn der Bundesrepublik.

Ich habe mich damals gefragt: das finden die erst 2012 heraus?

Wie kann es sein, dass also eine illegale Praxis über ein halbes Jahrhundert lang vor aller Augen geduldet wurde? Und plötzlich, als ob durch den Richterspruch auf einmal alle aus einem Fiebertraum aufwachen, merken, was sie da getan haben, sich aufregen, diskutieren, zetern.

Der Weckruf kam dieses Jahr von Eward Snowden. Wieder geht es um ein Grundrecht. Aber statt dem der „körperlichen Unversehrtheit“, diesmal um die „Informationelle Selbstbestimmung“. Wieder haben wir gewusst – nein, nicht geahnt, seit Echolon hat es jeder gewusst – dass unsere „Informationelle Selbstbestimmung“ von Geheimdiensten seit Jahrzehnten unterminiert wird.

Snowden lieferte dazu lediglich das Update. Und obwohl dieses Update sicher in seiner Monstrosität besonders ist, ändert sich nichts an der grundsätzlichen Tatsache, die allen schon vorher bekannt war: der Verletzung der Grundrechte.

Ich frage mich also was mit uns los ist. Sind wir auf bestimmten Augen blind, oder wollen wir es sein? Leben wir in einer ständigen kognitiven Dissonanz, aus der uns nur hier und da ein paar Richter und Whistleblower aufwecken können?

Viel wichtiger: Werden wir Prism einfach wieder vergessen, bis in 10 Jahren der nächste Whistleblower „Prosm“ (hihi) aufdeckt, das dann 15 Yotabyte pro Stunde wegspeichern kann?

In meinem Vortrag auf der SigInt habe ich einen Begriff einzuführen versucht, den ich „Beobachtungsschema“ genannt habe. Beobachtungsschema ist ein bisschen verwandt mit dem, was Foucault „Archiv“ und was Thomas Kuhn „Paradigma“ nennt. Bei Foucault ist das Archiv die Summe der Regeln, nach denen bestimmte Diskurse zu einer Zeit funktionieren, insbesondere das, was diese Diskurse thematisieren können und was eben nicht. Mein Konzept des „Beobachtungsschemas“ will sagen, dass es abstrakte Konzepte gibt, die erst angeeignet werden müssen, damit man bestimmte Begebenheiten sehen kann. Sie wirken wie eine Brille. Der Feminismus ist so ein Beobachtungsschema. Wenn man sich nie mit Feminismus beschäftigt hat, wird man sexistische Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft nur schwer entziffern können. Man ist einfach blind dafür. Sobald man sich das Beobachtungsschema Feminismus angeeignet hat, fällt es einem aber wie Schuppen von den Augen. Man sieht überall Ungerechtigkeiten, wo man vorher keine gesehen hat.

Vielleicht gibt es auch bei Prism und der Beschneidungsdebatte sowas ähnliches wie ein Beobachtungsschema, das, ausgelöst durch entsprechende augenöffnende Ereignisse, aus einer lange gängigen Praxis auf einmal einen Skandal macht. Und wenn es diese Beobachtungsschemata gibt und braucht, um gewisse Offensichtlichkeiten zu bewerten, welche fehlen uns dann noch? Welche werden hinzukommen?

Es kann aber auch gerade umgekehrt sein: die Beobachtungsschemata sind längst da, sie sind ja schließlich schon lange in Gesetze und Urteilssprüche codiert. Aber irgendetwas hält uns normaler Weise davon ab, deren inkonsistente Anwendung im Alltag zu sehen. Ähnlich wie bei der Freud’schen Verdrängung wollen wir bestimmte Dinge nicht sehen, weil sie unser Welterklärungsmodell in Gefahr bringen würden.

Vielleicht ist es diese klebrige identitäre Verbindung der Deutschen zu ihrem Grundgesetz. Mit Sicherheit würde eine kritische und konsistente Beobachtung der Grundrechteanwendung all die Verfassungspatrioten in eine Identitätskrise stürzen. Oder noch krasser: Vielleicht braucht ein Rechtssystem zum Funktionieren sogar eine solche Grundrechtsdissonanz?

Viele Fragen, man weiß es nicht. Mal den nächsten Sommer abwarten.

15 Gedanken zu „Grundrechtsdissonanzen und Beobachtungsschemata

  1. Die These einer Grundrechtsdissonanz impliziert die Erfordernis eines Rechtsbruchs zur Erreichung der Rechtsstaatlichkeit. Leider muss Ihrer Analyse zustimmen. Gut finde ich diese Entwicklung mit Nichten.

    Fast scheint es so, dass unsere Gesellschaft wiederholte Rechtsverletzungen durch staatliche Organe als von Gott gegeben betrachtet. Prisim und die Beschneidungsdebatte sind nur prominente Beispiele. Des Weiteren wären die fast monatlichen Sprüche des Verfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherug, Eurohilfen oder Harz IV Sätzen genannt

    Doch statt die gewählten Rechtsbrecher in Berlin und Brüssel zum Teufel zu jagen, deklamiert die Presse und lamentiert der interessierte Bürger. Aufrufe zum Handeln bleiben ungehört. Aber der Eurovision Song Contest bekommt beste Einschaltquoten.

    Jene politische Agonie verglich SPD Kanzlerdarsteller Peer unlängst mit der Zeit des Biedermeier und gab damit so etwas wie eine Antwort auf das oben beschriebene Phänomen. Es ist der Rückzug des Bürgertums ins Private in Folge massiv beschränkter politischer Handhabe.

    Wir haben uns einen Staat geschaffen, in dem massive Grundrechtsverletzungen über Jahrzehnte kultiviert werden können aber Falschparker fast gesteinigt werden. In diesem Staat dürfen ja auch gewalttätige Jugendliche über 60 Straftaten begehen, bevor ein Staatsanwalt aufmerksam wird. Dies Erosion des Rechtsstaats ist beschämend!

    Mehr Demokratie sammelt aktuell Unterschriften für die Zulassung bundesweiter Volksentscheide. Siehe http://volksentscheid.de/

    Eine Unterschrift dort könnte ein wichtiger Schritt des Souveräns, also von dir und mir, zur Rückführung der Macht zum Volke sein. Handle jetzt!

  2. Interessante Herleitung. Wo bei Foucault und Kuhn findet sich das denn? (Habe bisher mit beiden nur oberflächlichen Lesekontakt gehabt..)

  3. „Der Feminismus ist so ein Beobachtungsschema.“

    Feminismus und Beschneidung in einen Sinnzusammenhang bringen, wo Feministinnen das Schicksal vom Jungen und Männern SCHEISSEGAL ist, ist schon hart.

    Der Feminismus, ja? Ausgerechnet!!!11 LOL

    Und „Auf Wiedersehen“.

  4. Nach Timur Kurans „Private Truths, Public Lies“ gibt es in Gesellschaften systematische Präferenzverfälschungen. Menschen sind erst ab einem gewissen Punkt in der Lage zu erkennen, was Ihre eigenen Präferenzen und deren Mehrheitsfähigkeit wirklich sind. Der Begriff Paradigma meint aber nach Thomas Kuhns „Die Entstehung des Neuen“ im Kern so etwas wie Musterbeispiel, ähnlich der konstruktivisten Sicht nach der die Unterscheidungen mit denen wir beobachten unsere Wahrnehmungen formen, nur halt erweitert als formales Modell, das in diesen Musterbeispielen enthalten sein muss. Auf Grund des Fehlens solcher Musterbeispiele wäre der Feminismus nach Kuhn wohl noch in einem vorparadigmatischen Zustand. Möglicherweise interpretiere ich aber auch zu viel.

  5. ich ich ich: Foucault: Achäologie des Wissens, Thomas Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen

  6. Natürlich gibt es scheinbare kognitive Dissinanzen im gesellschaftlichen Diskurs.
    Diese sind von den vorherschenden Paradigmen abhängig ( bspw.: „da kann man nix machen, die da oben machen eh was sie wollen“ ).
    Das „Beobachtungsschema“ ist an sich auch schon so eine Dissonanz, wie gerade am Beispiel Feminismus besonders deutlich wird, die sogar zu einer Art Massenhalluzinationen führen kann ( z.B. der „Gender-Pay-Gap“ von 27%, oder Rolle von Frau und Kind als prinzipielles Gesamtopfer des ebenso prinzipiellen „Nurtäters“ Mann ).
    Nicht zuletzt kommt hier aber auch oberflächliche und überpauschalisierte Kognition zum tragen.
    Wer weiß z.B. heute noch, daß die Artikel 1-18 GG die sog. Grund- und Abwehrrechte darstellen und was das bedeutet?
    Die darüber herumschwadronierenden Politfuzzies und der allergrößte Teil der Rechtsprechung wissen das, zumindest scheinbar, nicht, jedenfalls negieren sie es in ihren Äußerungen, sowie ihrer Alltagspraxis permanent.

  7. Du schreibst: „Vielleicht ist es diese klebrige identitäre Verbindung der Deutschen zu ihrem Grundgesetz. Mit Sicherheit würde eine kritische und konsistente Beobachtung der Grundrechteanwendung all die Verfassungspatrioten in eine Identitätskrise stürzen. Oder noch krasser: Vielleicht braucht ein Rechtssystem zum Funktionieren sogar eine solche Grundrechtsdissonanz?“

    Dabei frage ich mich, wie lange es noch dauert, bis du mit deiner Kritikentwicklung auf dem Bahamas-Niveau mit seiner Menschenverachtung, dem Rassismus und Sexismus angekommen bist?

  8. Pingback: Results for week beginning 2013-07-15 | Iron Blogger Berlin

  9. Hmmm, ja, ich verstehe Deine Verwunderung, dass, was schon lange ziemlich offensichtlich war, plötzlich ein Skandal ist.

    Es geht fast immer um Abwägungen zwischen mehreren Grundrechten (in Deinen Beispielen Religionsfreiheit und z.B. Recht auf körperliche Unversehrtheit), nicht um eine Verletzung aus absolut nichtigen Gründen.

    Die Dissonanz ist dann eine aus der Balance geratene Abwägung, was vielleicht eher erklärt, warum sie so lange nicht wahrgenommen wird. Und damit tritt sie auch fast zwangsläufig in Rechtsstaaten immer mal wieder auf.

  10. “Beobachtungsschema“. Man kann neue Begriffe für “Wertebild“ erfinden. Muss man aber nicht.

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