Massenmedien überschätzen ihre Kompetenz und ihre Legitimation als Sprachrohr der Öffentlichkeit. Vier Gründe, warum ich es moralisch für zwingend erforderlich halte, die Papers so schnell wie möglich der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen.*
1. Vertrauen in die Medien
Ich persönlich glaube nicht, dass die beteiligten Journalist/innen mit ihren Veröffentlichungen eine politische „Agenda“ verfolgen, wie es Craig Murray sehr erfolgreich in die Gegend raunt. (Ich halte Leute, die solche Verschwörungstheorien verbreiten, immer für etwas … einfältig.) Aber die Tatsache ist nun mal, dass das Vertrauen in die „Mainstreammedien“ nicht nur bei „Lügenpresse“ rufenden Pegidos erschüttert ist, sondern selbst bereits wieder mainstreamtauglich geworden ist. Ich halte diesen Vertrauensverlust für unberechtigt, aber er ist nun mal da.
Dass Verschwörungstheorien aufkommen würden, war natürlich unvermeidlich. Und ich glaube auch nicht, dass es keine mehr geben würde, wenn die Papers veröffentlicht wären. Aber durch die Veröffentlichung würde man zumindest die daran arbeitenden Journalist/innen aus dem Schußfeld der Spekulationen nehmen.
Die Frage wiederum, ob die Rohdaten bereits gefiltert sind und ob die Quelle vielleicht eine politische Agenda verfolgt, sind, wie ich finde, sogar sehr berechtigt.
Mit der Veröffentlichung der Papers würde das Vertrauen in die Medien wieder hergestellt. Nicht in einem absoluten Maß, aber als legitimer Teil des Ökosystems Öffentlichkeit, dass als Informationsarbeiter neben allen anderen auf der selben Datenbasis arbeitet. Und ich denke, das ist bitter nötig.
2. Öffentliches Interesse steht über Privatphäre
Als Grund für die Nichtveröffentlichung werden die Persönlichkeitsrechte der Betroffnen vorgeschoben. Das mag juristisch richtig sein. Es ist ja nicht so, als hätten wir es hier mit einem Katalog überführter Straftäter zu tun. Moralisch sieht die Sache aber anders aus.
Für diese Einschätzung muss man übrigens kein Post-Privacy-Apologet sein. Wenn der juristische Schutz der Privatsphäre irgendeinen Sinn hat, dann, um den Schwächeren vor dem Stärkeren zu schützen. In diesem Fall gibt es aber keine Schwachen. Wer es sich leisten kann, sein Geld in Offshore-Paradisen zu verstecken, der ist per definitionem nicht schwach.
Wer sein Geld versteckt, versteckt es vor jemandem. Dieser Jemand hat in der Regel ein berechtigtes Interesse an dem Geld. Das muss nicht heißen, dass das Geld nicht rechtmäßig (im Sinne von legal) außer Landes geschafft wurde. Es bedeutet aber, dass die Öffentlichkeit ein moralisches Recht hat, nachzufragen, woher das Geld kommt und warum er es versteckt.
3. Öffentliches Interesse geht über journalistische Öffentlichkeit hinaus
„Öffentliche Interesse“, sage ich. „Hier!“ rufen die Journalist/innen und klopfen sich auf die Brust: „das öffentliche Interesse sind doch wir!“
Da, aber, liegt ein Mißverständnis vor. In Zeiten vor dem Internet mag die Presse und die Öffentlichkeit noch einigermaßen kongruent gewesen sein. Heute ist das jedenfalls nicht mehr so. Journalismus ist sicher noch ein wichtiges Subset der Öffentlichkeit, vielleicht sogar das wichtigste, aber die Öffentlichkeit ist heute so viel mehr. Überall auf der Welt gibt es Akteure, die jenseits von journalistischer Relevanz ein berechtigtes Interesse an den Daten haben.
Das offensichtlichste sind die Strafverfolgungsbehörden. Wie viele Steuerfahnder sitzen weltweit an Fällen und eine kurze Abfrage im Panamapapers-System würde ihnen den entscheidenden Hinweis liefern? Wie viele Ermitter/innen weltweit sitzen an ihren Puzzeln des organisierten Verbrechens und kommen nicht weiter, weil sie die Geldflüsse nicht weiterverfolgen können? Sollen diese Verbrechen ungesühnt bleiben, weil sie unterhalb journalistischer Relevanz angesiedelt sind? Weil sie keine gute Story abgeben?
Aber es geht viel weiter: was ist mit der verlassenen Mutter, die dem Gericht beweisen muss, dass ihr Mann ihr doch Unterhaltszahlungsfähig ist? Was ist mit den sitzengelassenen Gläubigern, deren Geld in dubiose Kanäle abgeflossen ist, während der Schuldner Privatinsolvenz angemeldet hat? Was ist mit dem pleite gegangen Verein, dessen Schatzmeister Geld hat verschwinden lassen?
Hinter jedem versteckten Geld stecken Schicksale. Das Problem der Offshoregeldes ist dezentral verteilt und fein ziseliert wie Kapillaren. So sieht die Öffentlichkeit heute aus.
4. Das moralische Recht der richtigen Frage
Und das ist vielleicht das größte Missverständnis. Die Unkenrufe angesichts der bisher kolportierten dürren Storys über einen Jugendfreund von Putin kommen nicht nur von Putinverstehern. Auch ich verstehe das nicht. 400 Journalisten arbeiten 12 Monate an 2,6 Terabyte und im Zentrum steht so eine Story?
Ich will nicht ausschließen, dass noch wirklich spannende Geschichten kommen werden. Ich glaube aber, dass hier ein grundsätzlichges Missverständnis steckt. Nämlich, dass es überhaupt den einen großen Schatz gibt, den man nur mit genug Manpower heben könne.
Übersehen wird dabei mal wieder, dass die Macht von Daten immer in der Abfrage generiert wird, weswegen noch so große Manpower und Spezialexperten nur wenig weiterhelfen. Das Wissen, um die richtige Frage zu stellen, ist da draußen, weit verteilt in den angesprochenen Schicksalen.
Wer bereits eine Ahnung hat, wessen Auto immer in der Auffahrt der großen Villa am Ende der Straße steht, der weiß einfach besser wonach er in den Panamapapers suchen muss. Wer über Mitarbeiterlisten seiner Firma verfügt, in der er krumme Dinge vermutet, kann mit den Daten mehr anfangen, als noch so gute Journalist/innen. Wer zufällig an Kontoauszüge eines Spitzenpolitikers gekommen ist, weiß einfach, was sie in die Suchmaske eingeben würde.
Der Glaube der Journalist/innen, sie selbst verfügten über die relevanten Fragen, ist eine unzeitgemäße Hybris, die sich niemand mehr anmaßen sollte. Es gibt keine Zentralkompetenz der Abfrage.
Genau wie die Probleme, die durch Offshoregeld entstehen, ist auch die Kompetenz die richtigen Fragen zu stellen, dezentral verteilt. Diese Kompetenz liegt verstreut und unzugänglich in den Köpfen von Millionen Menschen. Sie haben Fragen, auf die die Journalist/innen nicht kommen würden. Fragen, die Ungerechtigkeiten beseitigen und das Leben vieler verbessern könnten, wenn sie sie nur stellen dürften. Welches moralische Recht haben die Journalist/innen ihnen diese Fragen zu verwehren?
Die Panamapapers sind relevant für Millionen Menschen. Um diese Relevanz aber zu heben, braucht es das verteilte Wissen der Millionen Menschen. Die journalistischen Gatekeeper stehen der eigentlichen Relevanz ihres Fundes im Weg.
- Zumindest alle Dokumente, die sich auf die eine oder andere Art mit dem Hauptgeschäft der Briefkastenfirmen beschäftigen.
Dem Journalismus wird misstraut, seit es ihn gibt – am häufigsten übrigens von Journalisten. Dagegen hilft m. E. auch eine Aufgabe der Aufgabe wenig. Also z.B., einfach die Datenschleuse am Panamapaperkanal zu öffnen.
Den Gedanken an eine hermetische Welt vor und offene nach Erschaffung des Internets halte ich übrigens oft für irreführend. Er verkennt, dass sich wohl niemals alle denkbaren gesellschaftlichen Ansprüche an die Herstellung von Öffentlichkeit miteinander vereinbaren lassen. Auch in der schwarmintelligenten Fassung nicht.
Klar, die Rolle von Medien (-Arbeiter/innen) muss immer wieder kritisch hinterfragt werden.Und Journos müssen mehr denn je Antworten liefern. Aber es gibt notwendige Funktionen: Ein so gewaltiger Datensatz muss durchforstet und aufbereitet werden. Ich beispielsweise möchte, dass das Profis machen, denen ich … ja … irgendwie vertraue.
Problematisch finde ich zudem einen Leitgedanken dieses Post – Recht durch Moral ersetzen zu wollen. Ganz dünnes Eis…
Naja.
Ich bin sehr froh, in einem Rechtstaat zu leben, wo ich sicher bin, dass nicht fallweise mal willkürlich Gesetze außer Kraft gesetzt werden.
Wehret den Anfängen! würde ich meinen.
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