Ich war das Wochende bis Montag bei meinen Eltern. Mein Vater hatte Geburtstag und so war eine jener Gelegenheiten an denen „man sich blicken lässt“. Aber diesmal hatte ich mir selbst noch einen Auftrag erteilt: Archäologie.
Es ist wirklich viele Jahre her, vermutlich mehr als zehn, dass ich einen Blick in die Fotoalben meiner Kindheit geworfen hab. Ich bin kein besonders nostalgischer Typ und so ist die Vergangenheit für mich vor allem eins: vorbei.
Aber letztens ging ein Link auf Twitter rum, der meine Begristerung weckte, wie die von vielen anderen. In diesem Blog werden Fotos von Fotos gesammelt, die vor dem Hintergrund ihrer jetzigen Realität fotografiert wurden. Und irgendwie machte es die Vergangenheit – und vor allem das Vergangensein der Vergangenheit – greifbar und damit interessant.
Und als ich nun zuhause war, habe ich meine alten Fotoalben durchgeblättert und nach ähnlichen Gelegenheiten gesucht. Ich bin ich nicht so der gute Fotograf, aber ich glaube, der Effekt kommt trotzdem rüber.
Der Baum ist gewachsen, wie man sieht, aber die Struktur stimmt noch. Das da war mein Spielplatz. Mitten auf dem Acker, eine winzig kleines Wäldchen. Wir haben Lagerfeuer gemacht und Kartoffeln darüber gegart. Jetzt ist vieles zugewuchert, was vorher frei war.
Ich hatte in der Streetview-Debatte immer wieder auf das Projekt von Fritten hingewiesen, der etwas sehr ähnliches tut. Fotos von damals sammeln und in den Kontext mit dem Heute stellen. Es ist eine ganz besondere Form der Archäologie und eine Form des Erinnerns, die mir sehr nah ist, theoretisch wie emotional. Und die irgendwie Zeitgemäß ist.
Durch den Cut, den die Konfrontation des selben mit seinem Vergangenem erzeugt, wird eben nicht, wie es in der klassischen Geschichtsschreibung getan wird, eine rationale Kontinuität erzeugt und eine Geschichte erzählt, sondern die nackte Andersheit zwischen den Zeiten deutlich gemacht. Es ist so, wie wenn man einen Bekannten nach langer Zeit wieder trifft und er einem sagt, dass man ja dünner oder dicker geworden ist. Das bekommt man aus seinem direkten Umfeld meist nicht zu hören, weil das zu nahe dran ist, als dass es die Veränderung beobachten könnte.
Das Geschichtsbild, das hier zum Ausdruck kommt, gleicht dem Foucaults, der die Brüche und Diskontinuitäten zwischen den Geschichts- und Diskursformationen hervorhebt. Nicht der lineare Übergang, sondern Zack – und alles ist anders. Bei Foucault sind es die Diskurse, die sich schlagartig wandeln. Auf einmal werden Dinge aussagbar, die vorher irgendwie nicht möglich waren zu sagen. Nicht in erster Linie, weil es durch Repression unterdrückt war, sondern weil das gesamte Weltbild ein anderes war. Die gesamte Konfiguration dessen, was gedacht und gesagt werden konnte.
Manchmal, wenn ich an das Weltbild meiner jungen Jahre zurückzuerinnern versuche, erlebe ich die selbe Fremdheit. Ja, ich glaube, ich habe zumindest einmal (vielleicht auch mehrmals) eine Diskursformation verlassen und bin in einer andere eingetreten. Nicht bewusst und nicht so, dass ich diese Formationen heute beschreiben könnte. Ich habe aber das Gefühl, dass ich in dieses Archiv hereingehen könnte, es archäologisch wie Foucault analysieren und den Riss beschreiben könnte, wenn ich mühe gäbe. Aber erinnern ist immer so anstrengend.
Abbo war unser erster Hund. Er war auf Fotos immer ein schwarzer Fleck und ist schon sehr lange tot. Das Meta-Foto hier war eine Herausforderung, weil an der Position an der das Original aufgenommen wurde, heute ein großer Busch steht, in den ich mich fast reinzwängen musste.
Doch da ist noch etwas anderes, an dieser Form der Erinnerung. Etwas das gleichzeitig hinter Foucault zurückbleibt und über ihn hinausgeht. Es ist ihre unwissenschaftliche Unbekümmertheit, ihre Beiläufigkeit und Zufälligkeit. Es ist nicht die Fraktur der Geschichte, die da beschrieben wird, wie sie Foucualt beschrieb (am liebsten anhand des diskursiven Wandels um das 17. Jahrhundert herum). Was wir auf den Fotos sehen ist eben keine intendierte Ausarbeitung einer Diskontinuität. Sie scheint da hindurch, das schon. Aber die Gegenüberstellung der unterschiedlichen Gegenwarten ist beliebig. Irgendein „Jetzt“ wird mit irgendeinem späteren „Jetzt“ in Beziehung gesetzt.
Wo Foucaults Analyse den Bruch anhand der Dokumente vergleicht und so die unterschiedlichen Diskursformationen identifiziert, sagen diese Bilder nur: guck mal, wie anders. Sie enthalten sich quasi einer Wertung und einer Interpretation.
Der ehemalige Weggefährte aber auch Kritiker Foucaults Jaques Derrida hat das Archiv und die Archäologie in „dem Archiv verschrieben“ neu und anders gedeutet: „Wenn wir wissen wollen, was das Archiv bedeutet haben wird, so werden wir es nur in zukünftigen Zeiten wissen.“
Wenn es so ist, dass Foucault Diskursformationen ausgemacht hat, in denen bestimmte Aussagen getätigt werden können und andere nicht (so seine Definition des „Archivs“ in Archäologie des Wissens), was versetzt ihn dann „heute“ in die Lage, diese neuen Fragen an die Geschichte zu stellen, die er stellt? Und noch viel wichtiger: welche kann er heute noch nicht stellen?
Es ist nicht so, dass Foucault diese Schwierigkeit nicht bewusst gewesen wäre. Doch eine Antwort hat er auf diese Frage nicht gefunden. Jedenfalls keine befriedigende, denn schließlich hätte das grundsätzliche Infragestellen der eigenen Perspektive seine Arbeit relativiert. Sie wäre, wie die Fotos hier, eine Momentaufnahme einer zeitgenössischen Geschichtsinterpretation und offen für jede neue diskursive Verschiebung. Auch über Foucault hinaus.
Es ist so, als ob ein zukünftiges Ich diese Fotos hier noch einmal nehmen kann und dann noch einmal die Originalstätten aufsuchen und eine dritte Zeitebene hinzufügen kann. Oder sogar jemand anderes. Oder jemand tut damit etwas völlig neues damit. Oder derjenige befragt meine Perspektive auf die Geschichte. Ohne Zweifel: das geht.
Ich habe dieses Fahrrad bekommen, als ich in die 7te Klasse kam und habe es sehr lange gefahren. Sogar noch fast die gesamte Unizeit. Es wurde nie geklaut, weil es so auffällig war. Die beiden Tannen vor dem Haus sind inzwischen Verweihnachtsbaumt worden.
Vielleicht werden wir eines Tages müde lächeln, über meine 2D-Archäologie. Vielleicht braucht es in ein paar Jahren ja nur ein paar alte Fotos aus unterschiedlichen Perspektiven und der Computer kann daraus ein 3D-Modell zimmern. Wer weiß schon, welche Archäologie morgen möglich sein wird? Oder wie man denken wird über das vergangene Heute oder über die Vergangenheit ansich? Oder über das heutige Denken der Vergangenheit?
Diese merkwürdige Konfiguration der Zukunft, die alles, all die Arbeit, all die Archäologie, all die Erinnerung offen wie ein Scheunentor macht – offen für Neubearbeitung, Neuinterpretation, etc – habe ich bekanntlich „Kontrollverlust“ genannt. Foucault – im Gegensatz zu Derrida – scheint der Kontrollverlust nicht geheuer gewesen zu sein. Und ja, ich gebe gerne zu, dass die Idee des Kontrollverlusts auf einer Derrida-Engine läuft.
Derrida, der seinen Blick weg von der Geschichte, auf den Blick des Historikers – oder den Foucualts – lenkt, hat eine Sache gesehen: dass ein Geschichtsbild mehr über denjenigen aussagt, der das Geschichtsbild anfertigt, als über die Geschichte selbst. Dementsprechend kann es nie um die „richtige“ Interpretation von Geschichte gehen, egal, wie man sein Geschichtsbild transformiert. Es kann immer nur um das zukünftige Gesichtsbild gehen.
„Was wird X gewesen sein?“ ist Derridas immer und überall gestellte Frage. Es ist natürlich keine Frage, die man in einem empirischen oder gar formal korrekten Sinne beantworten kann. Die Befragung des Heute aus der Zukunft verschiebt die Betrachtung von der Epistemologie hin zur Politik. Ich habe das hier letztens versucht durchzuexerzieren. Ich glaube, aus diesem Denkansatz lässt sich noch eine ganze Menge herausholen. Vielleicht eine neue, zeitgemäße Linke Position?
PS: All diese Gedanken gären schon seit vielen Jahren in mir. Es ist meine bislang nicht vollendete Dosktorabeit. So langsam komme ich an dem Punkt, meine Gedanken entsprechend formulieren zu können. Vielleicht gibt es ja noch Hoffnung? Wer es genauer wissen will, lese das Exposé meiner Diss dazu.
Komisch, ich war auch gerade in der Heimat, oder dem, was davon übriggeblieben ist. Ich hab aber das alte Foto nicht mitgenommen, nur dieselbe Stelle fotografiert und es später reinmontiert: http://twitpic.com/5m4k30
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