Seit ich in meinem ZEIT Online Artikel das Privatsphären-Narrativ für beendet erklärt habe, hat sich eine Menge getan. Es gibt gute Artikel, die versuchen zu fassen, was wir heute noch unter Privatsphäre oder eben nicht mehr verstehen können, oder wie diese sich weiterentwickelt hat.
Ich will hier auf einige interessante Ansätze hinweisen:
– Christoph Kappes sieht die Privatsphäre vor allem in der Transformation. Es gäbe eben neue Formen von Privatsphäre, die er hier phänomenologisch zusammengetragen hat. Ich stimme nicht überall zu, aber es sind definitiv ein paar interessante Beobachtungen dabei.
– Nathan Jurgenson findet nicht, dass die Privatsphäre tot ist, sondern argumentiert geschickt, dass die Idee, Publizität und Privatsphäre als antagonistische Nullsummenspieler zu sehen, verfehlt ist. Analog zum Wissen, das immer auch das Nichtwissen miterschaffe, provoziere ein erhöhtes Maß an Publizität eben auch ein höheres Maß an Privatsphäre. Ich glaube, das ist ein Ansatz, den es weiterzudenken lohnt.
– Schließlich hat tante (Jürgen Geuter) die Grundidee meines Artikels aufgegriffen und weitergefragt, was eigentlich so kaputt ist, an dem Privatsphärenbegriff. Es entspann sich zunächst eine interessante Diskussion auf Twitter zwischen ihm, Hans Hütt und Martin Lindner. Letztere begannen mit Begriffen zu experimentieren wie „Datenkörper“ und „Datenselbstwolke“, was tante aber zurückwies. In einem Blogpost führt er aus, dass das Überwinden des Privatsphärennarrativs in erster Linie bedeuten muss, Menschen nicht mehr als solipsistische Einheit zu betrachten, die irgendetwas konzentrisch umgibt, sondern vielmehr als ein Knotenpunkt einer kommunizierenden sozialen Gesamtheit.
Ich schließe mich dieser Stoßrichtung vollkommen an. Das Wort „Privatsphäre“ ist broken by Design, weil es die Situationen auf die sie eine Antwort zu geben vorgibt, überhaupt gar nicht abbilden kann. Überwachung ist keine individuelle Angelegenheit, sondern eine Relation zwischen Überwacher und Überwachten. Privatsphäre kann hier zwar den Anspruch repräsentieren von Überwachung bitte verschont zu bleiben, doch sobald dieses Überwachungsverbot nicht mehr funktioniert (wie derzeit durch die NSA, etc.) merkt man, dass es weiterhin Überwachungssituationen gibt, die es auch dann zu vermeiden gilt, wenn die Verbotssphäre bereits zerstört ist.
Hinzu kommt, dass der Privatsphärenbegriff nicht der Tatsache Rechnung trägt, dass es unterschiedliche Qualitäten von Überwachung gibt. Ich habe diesen Umstand in meinem letzen Text zum Thema versucht, zu formalisieren: „Überwachung ist nicht gleich Macht, sondern Macht macht Beobachtung zur Überwachung.“ Überwachung ist somit immer eine Relation mit einem Machtgefälle. Auch diesen Umstand macht das Wort „Privatsphäre“ unsichtbar. Wenn wir von Überwachung sprechen, müssen wir diese Macht – die sich in der Möglichkeit des Beobachters zur Sanktion ausdrückt – aber immer mitdenken. An ihr misst sich nämlich die Qualität der Überwachung, die bei der Diskussion um die NSA-Affaire kaum eine Rolle zu spielen scheint. Das aber ist eine enorm privilegierte Position, wie ich gleich ausführen werde.
Denn darüber hinaus gibt es eine Menge Überwachungssituationen, in denen sich „Privatsphäre“ überhaupt gar nicht als valide Gegenstrategie anbietet.
Gestern habe ich aus diesem Grund auf Twitter ein bisschen rumgetrollt, indem ich die NSA-Überwachung in Relation zu anderen Formen der Überwachung – die nicht sofort als solche erkennbar sind – gesetzt habe. Manche Vergleiche waren auch offensichtlicher, wie „Vorratsdatenspeicherung ist schlimmer als die NSA“ oder etwas subtiler: „Hartz4 ist schlimmer als die NSA“. Ich wollte damit auf den Machtfaktor der Überwachung hinweisen. In diesen Fällen ist mir der Überwacher viel näher und seine Sanktionsmöglichkeiten sind viel realer und wahrscheinlicher, als es bei der NSA der Fall ist. Ich habe schon lange kritisiert, dass beispielsweise Hartz4 nie wirklich im Fokus der Datenschutzbewegten stand, denn da müssen sich die Menschen wirklich nackig machen und der Drohapparat des Überwachers ist existentiell und drakonisch.
Das alles ist noch recht offensichtlich. Ich hatte aber auch ein paar erklärungswürdigere Beispiele getwittert:
frontex ist schlimmer als die nsa.
— Michael Seemann (@mspro) November 2, 2013
Keine Frage, Frontex überwacht, aber die Überwachung ist eine völlig andere. Frontex überwacht z.B. das Mittelmeer. Es geht hier kaum um konkrete Personen, sondern nur um eine Kategorie von Person: Flüchtlinge. Nach dieser Kategorie wird gefahndet (Beobachtung) und einem Prozedere unterworfen, das sie schnellstmöglich wieder loszuwerden versucht (Sanktion). Es gibt keine personenbezogene Überwachung und dennoch ist diese Überwachung für viele Menschen in ihrer Konsequenz katastrophal. Wir haben hier eine schlimme Überwachungssituation die in keinster Weise auf eine individuelle „Privatsphärenverletzung“ abzielt.
rassismus ist schlimmer als die nsa.
— Michael Seemann (@mspro) November 2, 2013
Auch Rassismus ist eine Überwachungssituation. Die großen und kleinen Rassismen jeden Tag entspringen nämlich immer Beobachtungen. Beobachtungen, die die Andersartigkeit eines Menschen feststellen und darauf hin das eigene Verhalten dieser Person gegenüber diskriminierend ändern. Wir haben hier also Beobachtung und Sanktion und damit Überwachung. Der einzige Unterschied zu den Überwachungssituationen, die wir als solche bezeichnen ist, dass hier kein „Geheimnis“ oder ein Nichtöffentlicher Tatbestand vom Beobachter erspäht wird, sondern dass der Tatbestand von vornherein öffentlich ist. Menschen mit anderer Hautfarbe als weiß sind einer ständigen Überwachung ausgesetzt, gegen die keine Privatsphäre hilft.
armut ist schlimmer als die nsa.
— Michael Seemann (@mspro) November 2, 2013
Kein Geld zu haben induziert eine ständige Selbstüberwachung. Kann ich mir das hier leisten? Habe ich genug Geld auf dem Konto für die Miete? Kann ich mir leisten, dieses Wochenende auszugehen? Alltagssituationen, die für die meisten Menschen selbstverständlich sind und an die sie keine Gedanken verschwenden müssen, erfordern bei armen Menschen ständige, kritische Selbstreflexion. Man erschafft einen inneren Buchhalter, der den ganzen Tag das eigene Handeln kontrolliert. Wir haben hier also eine Beobachtungssituation mit laufender Sebstsanktionierung. Diesem Buchhalter gegenüber hat man noch weniger Recht auf Privatsphäre, als seinem JobCenter-Agenten. Und nur weil man selbst der Überwacher ist, heißt das nicht, dass man nicht fremdbestimmt ist. Armut ist die Fremdbestimmung durch die kapitalistische Umwelt und ihren Preisschildern.
Die Liste ließe sich noch ewig fortführen: Sexismus ist schlimmer als die NSA, Homophobie ist schlimmer als die NSA, etc.
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Ich habe nun gesagt, dass all diese Überwachungssituationen schlimmer sind als die NSA. Sie sind sind schlimmer, weil sie nicht abstrakt verbleiben, sondern tatsächlich konkrete Bedrohungszenarien für Leute erschaffen. Sie sind schlimmer, weil sie ganz konkret Einfluss auf das eigene Leben nehmen, mich gefährden, bedrohen und fremdbestimmen. Und sie sind schlimmer, weil es keine Schutzmechanismen gegen diese Formen der Überwachung gibt und weil solche auch nicht vorgesehen sind.
Ich bleibe dabei: „Privatsphäre“ ist in erster Linie eine bourgoise Phantasie und das Gejammer um die NSA-Spionage eine extrem privilegierte Angelegenheit. Die Verletzung der Privatsphäre, ohne wirklich drohende Konsequenzen und Sanktionen ist ein Luxusproblem, dass man erst als Problem wahrnimmt, wenn man nur noch wenig andere Probleme hat.
Das heißt nicht, dass die NSA-Spionage nicht schlimm ist. Sie ist schlimm für die Demokratie, für das Zusammenleben, für das Vertrauen in die Institutionen. Wir müssen die NSA bekämpfen, um nicht von ihr regiert zu werden. Aber die Angst um die eigene Privatsphäre kann ich dabei nicht wirklich ernst nehmen.