Eigentlich

Was ist „Eigentlich“ eigentlich für ein komisches Wort? Eigentlich scheint es nur im deutschen zu geben. „Really“ im Englischen entspricht ihm nicht wirklich (not really). „Eigentlich“ macht etwas ähnliches, aber es macht es konsequenter. Während „Really“ zwar auf eine Realität hinweist, die anders ist als es scheint, impliziert „Eigentlich“ von vornherein zwei Realitätsebenen. Zwei Realitätsebenen, mit denen wir ganz selbstverständlich umzugehen wissen, die uns sprachlich seit unserer Kindheit begleiten. Die also mit der Muttermilch aufgesogen, uns tief in unser Stammhirn eingepflanzt sind, kaum mehr bewusst aber immer präsent.

Einerseits haben wir die Welt des Scheins. Die Dinge scheinen auf eine bestimmte Art und Weise klar vor uns zu liegen, sie lassen sich beobachten und bewerten, aber der Deutsche weiß bereits, dass dem ja nicht so ist.

Denn eigentlich ist es ja alles ganz anders. Die Welt der Eigentlichkeit ist die Welt der Wahrheit, genauer: der Wahrheit hinter der Wahrheit. Hier, abgetrennt von der äußerlichen Welt, regieren die verborgenen, ja, geheimen Mechanismen der Welt. Das, was nicht offensichtlich ist, hat hier seinen Platz. Das Wort „Eigentlich“ ist das Tor, das man seinem Gesprächspartner dahin öffnet.

Und hinter diesem Tor ist nichts wie es scheint. Hässliche Dinge werden plötzlich schön (Eigentlich ist es doch ganz schön), Aufgaben, an denen man noch sitzt, sind plötzlich erledigt (Eigentlich bin ich schon fertig) und widerliche Menschen werden nett (Eigentlich ist er ganz nett).

Tolles Wort eigentlich, dieses „Eigentlich“.

7 Gedanken zu „Eigentlich

  1. Wir haben in der Stabi Hamburg einen Kollegen, der – wenn er in Arbeitssitzungen seine Redebeiträge mit „Eigentlich hab ich nichts zu berichten“ anfängt – uns mindestens ’ne Viertelstunde zutextet. Seither reagiere ich irgendwie allergisch auf das Wort „eigentlich“.

  2. und ich denke immer das gegenteil, äh: Gegenteil, wir achten ja auf Großschreibung. „Eigentlich“ ist und bleibt für mich eigentlich eine ausholende Geste, die Ankündigung eines umfassenden Konjunktivs: „eigentlich wollte ich ja / war’s ja gedacht als … -> aaaaaaber …“. Ein „Eigentlich“ deutet also nichts Eigentliches, nichts Essenzielles an: denn es kann sowohl das Tor zur Wahrheit, sprich: Einladung, sein, gleichzeitig (oder in anderem Kontext) aber nichts anderes andeuten als eine verbockte Intention, einen halbherzig gefassten Entschluss. Die „Welt der Eigentlichkeit“ ist wohl auch, eingestandenerweise, die relativierende Welt des „Sowohl als Auch“, des „so aber auch anders“.

  3. Also im Englischen gibt es „Eigentlich“ eigentlich auch, nämlich als „actually“. Also ein Phänomen was nicht nur die deutsche Sprache befallen hat 🙂

  4. ähnlich verhält es sich, finde ich, mit „doch“.auch nicht so leicht zu übersetzen.

  5. Ich würde auch „actually“ heranziehen. Selbe Implikationen wie „eigentlich“, finde ich.

  6. Tja, die Bemerkung von markus ist ganz spannend, weil dort die Ebenen genau umgekehrt sind. Das ist ja wohl der Grund, warum manchen das „Eigentliche“ auf die Nerven geht, weil es zum Uneigentlichen werden. „Eigentlich habe ich für dieses Posting keine Zeit, aber ich erklär Ihnen das mal … schwall …“

    Und dann steckt da ja noch „eigen“ drin. Diese Bedeutungsschillerei, die Heidegger wohl attraktiv fand mit seiner „Eigentlichkeit“.

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