Fragen

1. Welche Art Ökonomie findet statt, wenn Millionen Menschen unentgeltlich Texte (auch Musik, Filme, sonstige Dokumente) im Internet veröffentlichen? (Blogs, Wikis, insbesondere Wikipedia)

2. Welche sozialen und ethischen Implikationen hat es, wenn „mediale“ Erzeugnisse durch technische und rechtliche Supplemente künstlich verknappt werden? (DRM, Urheberrecht)

3. Wie verändert sich der Begriff des Eigentums in Zeiten einer zugangsorientierten Informationswirtschaft? (Lizenzmodelle statt Eigentumsrechte)

4. Welche Machtverschiebungen – politische im engeren Sinne sowie mikropolitische – ereignen sich angesichts einer Demokratisierung der medialen Produktions- und Distributionsmittel? (Computer und Internet in jedem Haushalt etc.)

5. Welche Diskursformationen sind heute möglich, wenn sich die Diskurse mehr und mehr segmentieren, anstatt – wie bisher – um das Zentrum der so genannten Massenmedien (ja, dazu gehört auch das Buch) zu kreisen?

6. Was bedeutet es für die Kultur der so genannten „Experten“, der Gelehrten, der Priester, der Journalisten, kurz: der strukturellen Ordnungsmacht des „Gatekeepers“, wenn jedes Individuum in seinem ureigenen Diskurs die Möglichkeit bekommt zu sprechen – und spricht?

7. Anders gefragt: Was bedeutet es für die Bürgerrechte, vor allem für das Recht der freien Meinungsäußerung, wenn es tatsächlich genutzt wird?

Man kann einige dieser Fragen konzentrieren auf:

Wer braucht noch die Institution der „Institution“?

D.h.:

Brauchen wir die Institutionen wirklich noch? Oder sind völlig andere gesellschaftliche Organisationsformen von Wissen denk- und machbar? Der Abwehrkampf der Institutionen (Journalismus, Wissenschaft, Kulturindustrie) gegen alle Bestrebungen von Partizipation und Heterogenisierung spricht eine klare Sprache: Hier kämpfen zum tode geweihte Dinosaurier gegen den Lauf der Zeit.

Aber sie haben dabei selten eine Angriffsfläche, denn sie kämpfen nicht gegen ihresgleichen, sondern gegen den Staub eines Meteoriten oder die Klimaveränderung im Zuge der Eiszeit oder gegen den strukturell bedingten Nahrungsmangel im Zuge der Entstehung neuer Arten. Sprich: Gegen die veränderten Umweltbedingungen in Zeiten des Internets.

Durch die neuen Möglichkeiten entstehen nicht nur aus sich heraus neue Diskurse, freier Austausch von Informationen über alle Grenzen (staatliche, rechtliche, intitutionelle) hinweg, sondern gleichzeitg entsteht auch eine Dringlichkeit zum Versprechen hin. Es entsteht beinahe ein „MUSS“, ein Imperativ zur Utopie. Denn in diesem neuen Licht besehen, wirkt unsere Gesellschaft ungelenk, träge und beinahe reaktionär.

(Diese und andere Fragen, werde ich unter dem Titel „Heute, das Archiv“ in meiner Dissertation behandeln.)

9 Gedanken zu „Fragen

  1. Oijoijoi, da hst dir aber ein fettes Brot zum backen ausgesucht. Schöne und sehr interessante Fragen, ohne Zweifel, aber ich könnte mir vorstellen, daß man auch nur mit der Hälfte eine Diss füllt.

    Vielleicht hast du ja auch Lust einzelne Argumentationsstränge hier vorzustellen, könnte ja für beide Seiten ganz interessant sein.

  2. Zunächst: das sind nur die Leitfragen, die mich dabei beschäftigen. ich werde sie sicher nicht in aller Ausführlichkeit beantworten.

    Und klar: ich werde einige Gedanken sicher hier im Blog entwickeln. Dafür isser ja auch da 😉 (zum Teil…)

    Ich werde mich mit dem Thema auf einer sehr abstrakten Ebene beschäftigen. Zentral ist dabei der Begriff des Archivs, aus dem ich eine Kulturtheorie entwickeln will (aber eine andere als Foucault), die den Herausforderungen, die ich oben skizziert habe, gerecht werden.

  3. Zu 1.: Keine Ökonomie, jedenfalls keine geldbasierte, weshalb soches Verhalten auch als Dumping zu werten und gesetzlich zu verbieten ist, um Arbeitsplätze zu erhalten oder zu schaffen.

    Zu 2.: Es ist ein probates Mittel, Punkt 1 nicht überhand nehmen zu lassen.

    Zu 3.: Der Eigentumsbegriff ändert sich nicht. Punkt 2 stellt dies sicher.

    Zu 4.: Es gibt keine Machtverschiebung, nur eine Machtzerstörung, da mangels Bezahlung die bisherigen Content-Erzeuger nicht mehr einwandfrei arbeiten können.

    Zu 5.: Stark segmentierte Diskurse werden immer weniger von der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen, da sich niemand um alles kümmern kann und eine am Boden liegende Content-Industrie nicht mehr vorfiltern kann. Es ist mit einem erheblichen Demokratie-Verlust zu rechnen.

    Zu 6.: Gatekeeper werden verschwindung und Chaos und Vakuum hintelassen.

    Zu 7.: Anders gesagt: Diese Bürgerreichte sind in jeder Hinsicht kontraproduktiv. Daher arbeitet man ja auch daran, sie abzuschaffen.

    Fein, was?! 🙁

    (Wer mich kennt, weiß wie dieses Posting einzuschätzen ist. Ich habe auf Ironie-Tags verzichtet.)

  4. Auf deine Fragen hab ich konkret keine vernünftige Antwort parrat, aber ich werd mal in ne leicht andere Richtung abflashen:

    Die Gategeeper, oder wie die griechische Übersetzung Vorschlägt, die archonten, sind wohl diejenigen, die zum einen das Archiv bewachen, zum andern aber auch die Auslegungshoheit über die von ihnen bewachten Inhalte haben (ursprünglich bezeichnet der Begriff tatsächlich jemanden, der die Gewalt über die Akten und Dokumente hat). So jedenfall ließe sich eine traditionelle Lesart der Diskursführenden grob umreißen. Jedoch sind genau diese leute im selben Zuge,in dem sie sich die Deutungshoheit vorbehalten auch der postmoderne verpflichtet, die sie sich auf die Fahne schreiben.
    Das heiß aber in Folge, daß das Archiv, das sie sich als Bewahrer angeignet haben oder dem sie angeeignet wurden (so genau lässt sich das nämlich meiner Meinung nach nicht ausmachen) eine radikale Umdeutung erfahren muß. Die Frage wäre also, wer nimmt diese Umdeutung nach welchen Kriterien vor.
    Der Zwiete Aspekt des Archivs wäre das Problem der Bewahrung. Unter den Vorzeichen des Internet müsste man sich zunächst die Frage stellen wie die Speicherung von Inhalten, die in unserer Zeit die Form von Information angenommen haben, sich darstellt. Gibt es das Archiv im herkömmlichen sinne noch, oder sind die Archive zur Modernen Spurensicherung geworden (Rekurs auf die Jäger und Sammler; siehe Carlo Ginzburg). Und zu guter letzt nocheinmal das Problem der Bewarung. Archive sind immer und zu jeder Zeit einem materiellen Speicher verpflichtet (Derrida nennt dies in seinen ästhetischen Schriften das „Subjektil“). Dieser Speicher unterliegt einer Dynamik und einer Ökonomie der Wiederholung, da sich das Archiv sonst allem Zugriff entziehen und damit faktisch nicht vorhanden sein würde. die Wiederholung, wird unter diesem Gesichtspunkt zum Zwang und der Wiederholungszwang ist bei Freud aufs Engste mit dem Todestrieb verknüpft. „Das Archiv arbeitet also jederzeit gegen sich selbst“ (derrida, Mal d’archive).
    Davon ist auch das Internet nicht ausgenommen und damit würde ich einen kleine Brückenschlag zu deiner ersten Frage versuchen: Die Ökonomie der Information ist die seiner maximalen Verbreitbarkeit, aber eben diese Verbreitung fällt mit ihrer steten Wiederholung zuammen. Die Frage, die ich an deine Frage richten würde wäre also, ob die Verbreitbarkeit von Information ein Tauschverhältnis mit ihrem Inhalt eigehen kann, oder nicht?
    Vielleicht wirds jetzt auch zu wirr; anders gesprochen: In wie fern lässt sich der Inhalt dessen worüber informiert wird auf die potenzielle Ausbreitung im Netz zurückführen; welcher „Blickökonomie“ unterliegt das ganze?….

  5. 5. Welche Diskursformationen sind heute möglich, wenn sich die Diskurse mehr und mehr segmentieren, anstatt – wie bisher – um das Zentrum der so genannten Massenmedien (ja, dazu gehört auch das Buch) zu kreisen?

    das ist ein spannendes Thema, dass mich beschäftigt, seit ich meine Runden um WWW ziehe. Ich hatte es Fragmentierung genannt, weil ich die Clusterbildung für ein passendes Bild hielt. Egal. Ich interessiere mich jedenfalls für deine Überlegungen und hoffe auch hier daran teilhaben zu dürfen.

    Zu den Utopien fällt mir in Bezug auf dieses Thema seltsamerweise nur Babylon ein, womit wir eine eher negative Utopie bereiten. Hat der Turmbau nicht auch etwas von einem Archiv. Man denke an den Namen der Rose z.B.

    herzlich
    nerone

  6. texturmutant: ich hab grad die letzte zeit nicht mehr so die Zeit un muße mich amit auseinanderzusetzen, deswegen die säte Antwort: Du hast es ziemlich genau getroffen worauf ich hinaus wollte. In etwa so wird das ganze dann auch ablaufen. Ich sehe aber noch einige Schwierigkeiten, die ich bei Zeiten noch bloggen werde.

    Nerone: Die Frage ist natürlich nicht neu. Auch so wie ich sie hier stelle. Aber sicher: die Frage ist extrem spannend und ich werde versuchen, sie neu zu stellen und anders zu stellen. Und klar: Babylon, Übersetzung, der ganze Mist des INTER spielt da rein.

  7. Ich finde Deine Fragen sehr wegweisend. Da ich mich im moment mit dem Thema Gurus beschäftige habe ich einen Blick aus dieser Richtung auf die Fragen geworfen und für mich interessante Querverbindungen gewonnen.
    Die Gatekeeper sind eben diejenigen, die sich im weitesten Sinne als Wissensgurus beschreiben lassen. Auch diese Gestalten vermitteln nicht das Metawissen sondern nur das Handlungswissen weiter.
    Und ich wollte noch zum Tehma Archiv erzählen; In den 90er Jahren haben die Begründer der Zukunftstechnologie CD uns erzählt das ihre Silberlinge warscheinlich 300 Jahre lesbar sein werden. Bereits heute haben sich diese Prognosen auf immer noch optimistische 20 Jahre relativiert. Nichts bleibt für die Ewigkeit … das gilt auch für unsere Daten, so sie nicht in unhandliche Steine gemeißelt sind.
    Ceep on.

Kommentare sind geschlossen.